Mal verliert man, und mal gewinnen die anderen

Mal stellt sich erst nach einiger Zeit heraus, wer wirklich zu den Gewinnern zählt.

Das Eingangszitat stammt zwar aus dem Fußball, genauer gesagt von Otto Rehhagel, aber da dort bekanntlich meist die Bayern gewinnen, wende ich mich heute lieber der Europawahl zu, deren Ausgang war spannender, zumal auch mehr als eine Woche nach der Wahl noch lange nicht feststeht, wer genau sich zu den Gewinnern zählen darf. Aus deutscher Sicht gehören sicherlich die GRÜNEN dazu, zumindest auf den ersten Blick. Die ehemaligen Revoluzzer der Anti-Atomkraft-, Umwelt- und Friedensbewegung sind längst nicht nur selbst in der Mitte der Gesellschaft angekommen, sie scheinen auch drauf und dran zu sein, die Mitte der Gesellschaft für sich zu gewinnen und damit den großen Volksparteien Konkurrenz zu machen. Nicht selten erhalten sie dabei sogar Rückenwind von den früheren Vertretern der Mitte. Etwa dann, wenn diese eines der brennendsten Themen unserer Zeit nicht konsequent zu ihrem eigenen machen oder, schlimmer noch, wie Ex-SPD-Chefin Nahles dem politischen Gegner sogar vorwerfen, »eine rücksichtlose Klimaschutzpolitik auf Kosten der Braunkohle zu betreiben«. Und das zu einem Zeitpunkt, an dem jedem klar sein konnte, dass die Nutzung fossiler Brennstoffe nicht der Königsweg der Zukunft sein wird. Ob hingegen der deutsche Alleingang beim Atomausstieg oder die viel gepriesene (aber nicht uneingeschränkt umweltverträgliche) E-Mobilität ein solcher Königsweg sind und ob wir in Umweltfragen nur mit Verboten weiterkommen, lässt sich freilich auch bezweifeln. Das ändert jedoch nichts daran, dass es den GRÜNEN im aktuellen Wahlkampf wie keiner anderen Partei gelungen ist, die Stimmung im Volk aufzugreifen und politisch für sich zu nutzen. So gewinnt man Wahlen. Immerhin hält es mittlerweile die Hälfte der Bundesbürger für unbedingt notwendig, sich mit den Folgen des Klimawandels auseinanderzusetzen.

Wählern wie Politikern dürfte indes klar sein, dass mit den meisten Stimmen noch lange nichts gewonnen ist. Erfolgreicher Klimaschutz hängt nämlich weniger vom Wahlergebnis als vom Verhalten jedes einzelnen Wählers und sogar Nichtwählers ab. Davon wie er sich ernährt, sich fortbewegt und wie offen er für Veränderungen ist. Doch selbst wenn das aktuelle Votum keines unserer Probleme auch nur ansatzweise lösen kann, wird es zumindest dafür sorgen, dass sich einige Parteien kritisch hinterfragen – vorausgesetzt sie sind nicht unbelehrbar und gehen mit Kritik nicht um wie Annegret Kramp-Karrenbauer. Ihre Reaktion auf unliebsame Stimmen aus den Sozialen Medien hat mich übrigens auch an Rehhagel erinnert. Er prägte einst den Satz: »Jeder kann sagen, was ich will.« Erfolgreichen Fußballtrainern lässt man so eine Einstellung vielleicht gerade noch durchgehen, aber beim Wahlvolk holt man mit dieser Sichtweise ganz sicher keine Punkte.

Wo wir gerade bei »König Otto« sind: In Bremen, wo Rehhagel große Erfolge feierte, wurde auch gewählt. Die Hansestadt wird seit Kriegsende ausschließlich von SPD-Bürgermeistern regiert. Erstmals erhielt jetzt aber ein Kandidat der CDU die meisten Stimmen. Ob er damit tatsächlich Bürgermeister werden kann, ist noch nicht gesagt. Das entscheiden mögliche Koalitionspartner. Während also noch unklar ist, wer im Norden den Sieg davontragen wird, kann man zumindest aus gesamtdeutscher Sicht einen klaren Gewinner des Wahlsonntags ausmachen: die Demokratie. 61,5 Prozent Wahlbeteiligung sind der höchste Wert bei Europawahlen seit 1994 und das in Zeiten vermeintlicher Politikverdrossenheit. Auch erfreulich ist, dass der deutsche Protestwähler, anders als viele seiner europäischen Nachbarn, sein Kreuz nicht ausschließlich ins ultrarechte Kästchen gesetzt hat. Das macht uns alle zu Gewinnern.

de_DEDeutsch
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