30 Jahre nach der Wende stehen weniger Mauern im Land, dafür haben sich Gräben aufgetan
m November wird in Berlin die offizielle Feier zum 30. Jahrestag des Mauerfalls steigen. Dank dieses Ereignisses in den späten 80ern konnten viele von uns schon vergangene Woche ein extra langes Feier-Brückentag-Wochenende genießen. Doch ehrlich: Wer von Ihnen hat am Nationalfeiertag tatsächlich an die Deutsche Einheit gedacht und was ging Ihnen dabei durch den Kopf? Aktueller denn je ist auch die Frage: Was ist nur aus der deutschen Einheit bzw. aus der Einigkeit der Deutschen geworden?
Unsere Gesellschaft scheint in diesen Tagen gespaltener denn je
Holger Klein, ddw-Chefredakteur
Im Jahr 30 nach dem Mauerfall scheint Deutschland, scheint unsere Gesellschaft weniger vereint denn je. Überall tun sich Gräben auf. Nicht nur zwischen dem landstrichweise entvölkerten Osten und dem Westen, dessen blühende Industrielandschaften schon rosigeren Zeiten entgegen sahen. Auch zwischen Arm und Reich, Alt und Jung, Rechts und Links.
Unsere Gesellschaft wirkt in diesen Tagen gespaltener denn je. Sie teilt sich in Klimawandelleugner und Klimaprotestler. Man fährt entweder SUV und wird dazu verdammt, in der Klimahölle zu schmoren, oder man nutzt Unterrichts-Freitage zum Protest und wird als »geisteskrank« diffamiert. Eine sachliche Auseinandersetzung sieht anders aus. Dieses Schwarz-Weiß-Malen spaltet unsere Gesellschaft und bringt uns nicht weiter bei der Lösung der drängenden Probleme unserer Zeit. Eine geeinte Nation stelle ich mir anders vor: Nicht als homogene Masse im Gleichschritt — die hat schließlich erst zur Teilung unseres Landes geführt — sondern als gelebtes Miteinander unterschiedlicher Individuen, die im Grundsatz ähnliche Ziele verfolgen. Natürlich müssen wir nicht immer einer Meinung sein und natürlich dürfen, nein sollen, wir uns auch aneinander reiben. Aber ist des denn wirklich nötig, dass unterschiedliche Interessengruppen einen möglichst unveränderbaren Standpunkt beziehen und diesen, wenn nötig bis aufs Blut und ohne Rücksicht auf Verluste, verteidigen.
Beim Stichwort funktionierende Gesellschaft muss ich spontan an Ying und Yang denken. Ich habe zwar keine Ahnung von Daoismus, aber ich weiß, dass Ying und Yang für entgegengesetzte und dennoch aufeinander bezogene duale Prinzipien stehen, die sich nicht bekämpfen, sondern ergänzen. Ein Blick ins Internet verrät, dass das Verhältnis von Yin und Yang nicht mit dem Gegensatz von Gut und Böse zu vergleichen ist, sondern vielmehr ein relativer Gegensatz ist, der zwischen zwei rivalisierenden, doch zusammengehörigen (bitte merken: zusammengehörig!) Gruppen besteht, die komplementär sind und wechselweise in den Vordergrund treten. Das passt doch eigentlich ganz gut als mögliches Gesellschaftsmodell. Zumal wenn man davon ausgeht, dass dieses Wechselspiel der widerstreitenden Kräfte zu einer gewissen Ausgewogenheit führt.
Ausgewogenheit ist etwas, das wir auch in der Diskussion, über Landwirtschaft und Weinbau dringend gebrauchen können. Denn so wünschens- und erstrebenswert der nachhaltige Umgang mit unseren natürlichen Ressourcen ist, so unabänderlich ist auch die Tatsache, dass Milliarden von Menschen ernährt werden wollen. Und der einzige Weg, diese im wahrsten Wortsinne »wachsende« Herausforderung zu meistern, liegt nun einmal in einer modernen Landwirtschaft. Wie diese auszugestalten ist, darüber kann diskutiert werden, vor allem aber muss weiter geforscht und entwickelt werden.
Denn auch ohne jegliche wissenschaftliche Erkenntnis ist längst klar: Nicht jeder kann künftig einen vergleichbar hohen Verbrauch an Hühnchenbrust haben wie die Menschen im vereinten Deutschland — uns selbst eingeschlossen. Wenn wir diese Einsicht erst einmal verdaut haben und merken, dass wir zwar auf unterschiedlichen Decks, aber zumindest im gleichen Boot sitzen, führt das vielleicht zu etwas mehr Verständnis für einander. Unserer Diskussionskultur täte das sicher gut.
Holger Klein, ddw-Chefredakteur